Text: Antifa-Arbeit im Weitlingkiez Es hat sich einiges gebessert, aber Neonazis sehen das Viertel noch als ihr Revier
Eine große aufblasbare Leinwand steht auf dem Nöldnerplatz im Berliner Bezirk Lichtenberg. Etwa 30 Liegeklappstühle laden Passantinnen zum gemütlichen Hinsetzen ein – zumindest, wenn sie warm angezogen sind. Denn es herrscht ein nasskaltes Wetter. Später am Donnerstagabend wird hier der Film »Je suis Karl« gezeigt. Vorher diskutieren die Bundestagsabgeordnete Martina Renner, die Berliner Abgeordnete Hendrikje Klein (beide Linke) und Annika Eckel vom Netzwerk Lichtblicke Lichtenberg über Rechtsextremismus im Weitlingkiez. »Die einzige rechtsextreme Organisation, die im Weitlingkiez aktuell noch Relevanz hat, ist der ›Dritte Weg‹«, sagt Annika Eckel. Sie arbeitet in der Projektleitung von Lichtblicke Lichtenberg und ist dort für Rechtsextremismus und Rechtspopulismus zuständig. Erst vor drei Wochen habe es im Bezirk drei Infostände der neofaschistischen Partei »Der Dritte Weg« gegeben. »Dabei geht es aber weniger um eine Kontaktaufnahme mit den Anwohnenden, sondern viel mehr um eine Machtdemonstration«, sagt sie. Hinter den Ständen hätten sich vor allem breitschultrige Männer positioniert, die von allen als Bedrohung wahrgenommen würden, die nicht in das Weltbild rechter Ideologie passten. »Das trifft in Lichtenberg vor allem People of Color, Schwarze Menschen, Migrantinnen«, erklärt Eckel. Bei Lichtblicke ist auch die Registerstelle des Bezirks angesiedelt, die rechte, rassistische, antifeministische, antisemitische, homo- und transfeindliche sowie anderweitige diskriminierende Vorfälle dokumentiert. Im August seien dort 32 Vorfälle erfasst worden, bei zwei Dritteln davon handele es sich um rechte Propaganda wie Aufkleber und Flugblätter. Davon abgesehen seien es vor allem rassistische Vorfälle – diesbezüglich bleibe die Statistik in Lichtenberg konstant, so Annika Eckel. »Die alltäglichen Übergriffe gehen nicht von organisierten Neonazis aus«, sagt sie. Stattdessen seien die Täter*innen Anwohnende, die von der rechten Ideologie angesprochen und ermutigt würden, andere Menschen zu beleidigen oder gar tätlich anzugreifen. Auffällig sei, dass in diesem Jahr die Anzahl transfeindlicher Angriffe stark zugenommen habe. »Das sind zum Teil wirklich brutale Angriffe. Leute wurden geschlagen oder mit Stichwaffen angegangen«, sagt Eckel.
Die Bundestagsabgeordnete Martina Renner ist Sprecherin der Linksfraktion für Innenpolitik und Antifaschismus und gilt als Expertin für rechtsextreme Strukturen in Deutschland. Sorge bereitet ihr besonders die Verbreitung der rechtsideologischen Vorstellung von einem kurz bevorstehenden bewaffneten Umsturz, aus dem Deutschland als »ethnisch weißer Führerstaat« hervorgehen solle. »Das eint viele Gruppen, wie zum Beispiel die Identitäre Bewegung, die AfD und auch neuere Gruppen wie die ›Atomwaffendivision‹«, sagt Renner.
Bundesweit komme es darauf an, aus den vielen Meldungen zu gefundenen Waffenlagern und aufgedeckten Attentatsplänen ein Gesamtbild militanter rechter Mobilisierung zusammenzusetzen. »Dieser Quatsch, dass dabei immer wieder von Einzeltätern, Waffennarren oder Pyrobegeisterten gesprochen wird, muss aufhören«, fordert die Politikerin. Dafür sei es enorm wichtig, genau zu recherchieren, wo die Täter*innen sich rechtsideologisch politisiert haben und welche Netzwerke und Verbindungen in die neonazistischen Szene dabei relevant seien. »Diese Aufklärungsarbeit zu leisten ist wichtig. Aber es müssen auch die zuständigen Behörden kritisiert werden, die diese Arbeit eigentlich zu leisten hätten«, sagt Renner.
Sie warnt außerdem vor einer rechten Politisierung unter Jugendlichen, zum Beispiel durch »Nazi-Rapper« oder Influencer auf Internetplattformen wie Tiktok und Twitch. »Da helfen dann keine autoritären Maßnahmen durch Eltern oder Politik. Es braucht gute, nicht rechte Jugendarbeit«, so die Bundestagsabgeordnete. Sowohl Annika Eckel als auch Hendrijke Klein sehen dahingehend im Bezirk Lichtenberg schon einige Strukturen vorhanden. »Es gibt viele niedrigschwellige Angebote wie Ausstellungen und Filme und Zusammenarbeit mit den Schulen«, sagt Klein zu »nd«. Es liege allerdings in der Verantwortung der Schulen und Lehrkräfte, antifaschistische Bildungsarbeit umzusetzen.
Annika Eckel weist darauf hin, dass die Akteur*innen der freien Kinder- und Jugendarbeit zwar sensibilisiert und gut geschult werden, es allerdings oft an der finanziellen Ausstattung mangelt. »Das ist ein Thema sowohl in Lichtenberg als auch berlinweit. Aktuell gibt es eher Befürchtungen, dass die Mittel noch gekürzt werden«, so Eckel. Linkspolitikerin Klein hofft auf die Einführung des Demokratiefördergesetzes in Berlin, das noch in den Kinderschuhen stecke. »Damit sollen die Strukturen in der Stadt nachhaltig finanziell abgesichert werden«, sagt sie zu »nd«.
In Berlin bringt bestenfalls der Untersuchungsausschuss zum Neukölln-Komplex »etwas Licht in die Sache«, hofft Hendrikje Klein. Sie ist für die Linke im Weitlingkiez direkt in das Berliner Abgeordnetenhaus gewählt worden. Es sei davon auszugehen, dass die Täter der rechtsextremen Anschlagserie in Neukölln durchaus berlinweit vernetzt seien, sagt sie. »Es ist dabei auch die Frage, wie gut die Behörden in Berlin ermitteln.«
Klein hat die Diskussion mit Filmvorführung auf dem Nöldnerplatz organisiert. »Ich mag den Platz sehr gerne für Veranstaltungen, gerade zu so einem Thema«, sagt sie. Der Weitlingkiez hat eine heikle Vergangenheit. Lange galt er als von Neonazis dominiert. Rechtsextreme nehmen ihn auch heute noch als ihr Revier wahr.
Mit Blick auf diese Vorgeschichte sieht Annika Eckel insgesamt eine positive Entwicklung. Es gebe zahlreiche Initiativen und Bündnisse, die sich gegen rechte, faschistische und diskriminierende Ideologien, Strukturen und Angriffe organisieren und damit auch erfolgreich seien.
»In bestimmten Punkten ist Lichtenberg ein gutes Beispiel dafür, dass sich Engagement von vielen lohnt«, meint Eckel. Denn so gebe es sowohl Rückhalt für die von Angriffen Betroffenen als auch Ermutigung für die Aktivist*innen, dass sich tatsächlich etwas verändern kann. »Dafür braucht es aber einen offenen Umgang mit der Realität. Es darf nicht so getan werden, als ob es keine Probleme mit Rechtsextremismus gebe, sonst können diese Probleme auch nicht angegangen werden.«