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Im Leben eines Kindes kommt irgendwann die Erkenntnis, dass die Eltern nicht allwissend sind.
Mich hat diese Einsicht erwischt, als ich so fünf oder sechs Jahre alt war. Ich fuhr mit meinem Vater durch das Ruhrgebiet und - warum auch immer - mir stellte sich die Frage, wo eigentlich Wolken herkamen. Wie jede Frage, die nichts mit LKWs zu tun hatte, nervte sie meinen Vater, der eigentlich nie was wusste, das aber sicher.
Seine Antwort: na aus den Kühltürmen, siehst du doch, und zeigte auf einen Kühlturm eines Kraftwerkes an dem wir vorbeifuhren. Und ich, der Sechsjährige, fand das für einen Moment plausibel, man sieht es ja, da kommen ja Wolken raus, und die gehen auch nach oben.
Aber irgendwas störte mich an der Erklärung. Zu der Zeit war ich großer Fan von Dinosauriern, und ich hatte einige Dinobücher von Verwandten geschenkt bekommen. Und eins wusste ich sicher: zur Zeit der Dinos gab es noch keine Menschen, aber es gab schon Wolken.
Als dann die Schule anfing, hatten wir solche Momente häufiger. Eine Rechenaufgabe, die ich nicht verstand? Frag deine Mutter. Ein schwieriges Wort in einem Text? Lass mich damit in Ruhe. Besonders gegenüber meiner neuen Leidenschaft, dem Lesen, war er sehr skeptisch. Alles was er nicht verstand war pauschal “schwul”. Alles Sinnliche, oder Intellektuelle, oder Künstlerische. Einmal kam ich mit einer Notiz von Frau Bauer, meiner Klassenlehrerin, nach Hause. In meinem Schreibheft, ein glitzernder Sternsticker, daneben der Satz: “Prima, Stefan, du hast heute sehr gut vorgelesen!”
Aber anstatt Lob zu kassieren, und vielleicht ein “weiter so”, oder ein “was hast du denn vorgelesen?” kam nur die Anmerkung, dass ich ja auch eine Schwuhctel sei, und überhaupt, warum lernt man denn nicht mal was richtiges in der Schule? Beim nächsten Vorlesen war ich dann zögerlicher.
Dass seine Kinder kein Interesse an seinem Hobby zeigten, nervte ihn tierisch. Manchmal versuchte er, uns in seinem Hobbyraum, der eigentlich ein Kinderzimmer sein sollte, sein fürchterliches Hobby nahezubringen: Modell-LKW lackieren und in Vitrinen ausstellen. Wir hassten das Hobby. Natürlich fanden wir es zutiefst langweilig und stupide, aber mehr noch nervte es uns, dass wir uns ein Zimmer teilen musste, damit die “Modell-KWs” ihr eigenes Zimmer haben konnte.
Irgendwann sah ich ihn über einem Brief vom Sozialamt brüten. Das war nachdem er seinen Job verloren hatte und ich schon fast mit der Grundschule durch war. Und wie ich ihn da sitzen sah, mühsam Wort für Wort lesend, und die Lippen bewegend, zurück zu Satzanfängen springend, weil er den Faden verloren hatte, tat er mir irgendwie leid. Dann bemerkte er mich, fühlte sich ertappt, schrie irgendeine verletzende Obszönität, drohte mit Gewalt wenn ich nicht verschwände, und alles Mitleid war vergessen.
Einmal, in den Sommerferien, durften meine Schwester und ich in ein Ferienlager fahren; die lokale evangelische Kirche hatte Unterschichtskindern einen Zuschuss gezahlt. Meine Schwester fand sofort Anschluss bei den größeren Kindern, aber ich hatte es schwerer. Die anderen Kindern, meist junge Teenager, hatten ein gutes Gespür dafür, wer die Bezuschussten waren und die freiwilligen Betreuer halfen auch nicht gerade. Irgendwann gab es eine Vorstellungsrunde, und der kleine Stütze wurde natürlich gefragt, was sein Vater beruflich macht. Oh Gott. Jede Frage, nur nicht diese. Die Wahrheit war keine Option, zu sehr schämte ich mich für den kleingeistigen Vater, der nichts als seine LKW kannte, dessen liebe für seine “Brummis” tief in die Freizeit reinragte. Der keine Neugier besaß, und keine Ambitionen, bequem und fett und fies.
Also musste eine Lüge her. Arzt, oder Zoodirektor, oder Buchhalter, alles was nobler, oder interessanter, oder wenigstens besser bezahlt wäre. Doch kein Beruf fällt mir ein, und ich haue raus: “Busfahrer”
Vereinzeltes Kichern, ich werde rot. Ich sehe mich flehentlich nach meiner Schwester um, die so tut als kenne sie mich nicht, und irgendjemand brüllt “Busfahrersohn!”, schallendes Gelächter und ich habe einen Spitznamen für den Rest des Ferienlagers. Nach zwei Wochen, vielleicht warens auch vier, holt Mutter uns am Pfarrhaus ab. Meine Schwester küsst ihren neuen Freund energisch und mit Zunge zum Abschied und irgendein Kind ruft “Schönen Urlaub noch, Busfahrersohn” zu mir. Mutter registriert beides nicht, und wir fahren zurück in die Platte. Arbeitet Vater heute, frage ich, und halte bis zur Antwort die Luft an.